Studien zu ritueller Gewalt

Wissen erweitern

Rituelle Gewalt ist immer noch ein Tabuthema. Eine der Aufgaben unserer Stiftung ist es, zu einer Veränderung des öffentlichen Bewußtseins beizutragen. Dazu gehört auch, vorhandenes Wissen über diesen Bereich verfügbar zu machen.

In Deutschland wurden bisher nur wenige Studien zu ritueller Gewalt durchgeführt. Über die Entstehung dieser Studien gibt es Wissen nur in kleinen Fachkreisen. Das wollen wir ändern. Auf dieser Seite können Sie sich nun über Aspekte der Forschung zu ritueller Gewalt informieren und sich selbst ein Bild machen.

Pilotstudie 1997-2005

Powerpoint-Präsentation von 2005:
» Pilotstudie (pdf) [1.7 MB]

Vortrag (Text) zur Pilotstudie

Ulla Fröhling: Pilotstudie „Rituelle Gewalt in Deutschland“ 1997 – 2005
Vortrag zur 10. Jahrestagung der ISSD 25.11.2005 Klinikum Wahrendorff/Sehnde

Zehn Jahre ISSD Deutschland, ein guter Zeitpunkt zurückzuschauen, um einen Überblick zu gewinnen. Schon im zweiten Jahr des Bestehens der deutschen ISSD hat uns das Thema „rituelle Gewalt in Deutschland“ beschäftigt. Eine schwere Last, handelt es sich bei diesem Bereich doch durchweg um Straftaten, zum Teil um Schwerkriminalität. Immer mehr Berichte Betroffener wurden in den 90er Jahren bekannt. Das Ausmaß der geschilderten Gewalt übertraf alles, was viele der im Bereich Opferbetreuung oder -therapie tätigen Fachleute bislang aus Schilderungen von KlientInnen kannten. Dipl.-Psych. Michaela Huber, Traumatherapeutin, Supervisorin, Vorsitzende der ISSD, und ich, Wissenschaftsjournalistin und Autorin mit dem Schwerpunkt „Trauma und Erinnerung“, konzipierten eine Pilotstudie und führten sie durch. Dr. Dipl.-Psych. Frauke Rodewald, Mitarbeiterin der Medizinischen Hochschule Hannover, Abt. Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, wertete die Studie aus.

Öffentlich ist die Geschichte dieser ersten deutschen Studie zu ritueller Gewalt bisher nicht bekannt. Deshalb hier einige Informationen. Natürlich entstand die Studie vor einem bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund. 1996 war eine Enquete Kommission des Bundestages gegründet worden, die sich zwei Jahre lang mit gesellschaftlichen Phänomenen „Sogenannter Sekten und Psychogruppen“ beschäftigen sollte. Man begann, eine Problemlage wahrzunehmen. Scientology, Jugendsekten wie TM, auch die Zeugen Jehovas wurden kritischer wahrgenommen. Fundamentalistische Abspaltungen christlicher Kirchen kamen ebenso in den Fokus wie esoterische Gruppen und Satanisten.

Zwei Beispiele: 1994 hatten mehr als 50 „Sonnentempler“ in der Schweiz einen angeordneten Selbstmord durchgeführt. 1995 ermordete die Aum-Sekte mit einem Giftgasattentat in der Tokioter U-Bahn 12 Menschen, verletzte mehr als 5000. Die Sekte plante Größeres: sie lagerten Milzbrand-Butolismuserreger, zogen Ebola in Erwägung, versuchen, in Russland atomwaffenfähiges Material zu kaufen. Ihr Terror richtete sich auch gegen Mitglieder der eigenen Gruppe: diese mussten mit Elektroden versehene Mützen tragen, deren Stromfluss sie angeblich gedanklich mit dem Sektenführer gleichschaltete. Aussteiger wurden gefoltert oder mit chemischem Mitteln einer Gehirnwäsche unterzogen.
Grund genug also genauer hinzusehen.
Ende 1996 machte Silvia Eilhardt, Sektenberaterin aus Witten, die Enquete Kommission auf spezielle Entwicklungen im Satanismus-Bereich aufmerksam. Das Wort „rituelle Gewalt“ fiel. Eilhardt informierte die Enquete Kommission über aktuelle Veröffentlichungen zu diesem Phänomen, unter anderem über mein Buch „Vater unser in der Hölle“ (1996), die Einzelfallstudie einer rituell mißhandelten Frau. (F 2)

Im Januar 1997 erhielt ich eine Einladung zur Enquete Kommission von der Abgeordneten Renate Rennebach. Die sagte: „Wir finden die Einzelfallschilderungen beunruhigend, aber wir brauchen Zahlen.“

Darauf entwickelte Michaela Huber einen sehr knappen Fragebogen, den wir, unterstützt von Vielfalt e.V. Bremen, verschickten. Etliche von Ihnen kennen ihn, haben ihn ausgefüllt. Adressaten unserer bundesweiten Aktion waren Kliniken, ÄrztInnen, TherapeutInnen und Beratungsstellen, die mit Schwertraumatisierten arbeiten. Wir haben uns das Thema der ersten Studie also nicht gesucht, es wurde uns angetragen. Diese Pilotstudie trägt alle Kennzeichen einer ersten, eilig verfassten Untersuchung: sie hat technische Mängel, sie ist angreifbar, aber sie zeigt Tendenzen auf. Auf dieser Basis kann man nun sorgfältiger und wissenschaftlich korrekter nachschauen.
Erste Daten trug ich im März 1997 in Celle auf der 3. ISSD-Jahrestagung vor. Trauma-Details und Ausmaß der Folgestörungen waren so erschreckend, dass einige aus dem Fachpublikum es nicht ertrugen und den Raum verließen. Nicht wenigen der ausgefüllten Fragebögen lagen zusätzliche Blätter mit weiteren Fallschilderungen bei. Viele bedankten sich, dass wir überhaupt nachgefragt hatten.
Lange Zeit war diese Studie nicht anderes als zwei dickgefüllte Aktenordner, die an meinem Schreibtisch lehnten. Dann ging mir auf, dass ich darin nicht nur Statistik beherbergte, sondern auch – teilweise sehr detaillierte – Schilderungen von Schwerkriminalität. (Auch Berater rechtskräftig verurteilter Täter nahmen – mit anonymisierten Angaben – teil.) Seit dieser Erkenntnis lagert das Material im Panzerschrank einer Anwaltskanzlei.

Obwohl die Studie immer noch nicht veröffentlicht ist, hat sie doch schon vieles bewegt. Davon soll im Folgenden die Rede sein. (F 3)
Im März 1998 fand in Bonn eine nicht-öffentliche Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion statt. Titel: Destruktive Kulte und Rituelle Mißhandlung: Opfer, Täter und Konsequenzen für die Politik. (F 4)
TeilnehmerInnen:
Ulla Schmidt – damals noch unsere zukünftige Gesundheitsministerin
Prof. Dr. Jürgen Meyer (Sprecher der Arbeitsgruppe Rechtspolitik und Fachmann für Menschenhandelsdelikte)
Edith Niehuis, Renate Rennebach, Cornelie Sonntag-Wolgast, Hanna Wolf.

Hier das Programm (F 4 + 5):
1. Dipl.-Psych. Michaela Huber: Rituelle Mißhandlung und Persönlichkeitsspaltung: Wenn das Opfer den Täter in sich hat
2. Dipl.-Soz.päd. Thorsten Becker: Auswirkungen ritueller Mißhandlungen von Kindern in Deutschland: Internationaler Überblick und Situation in Deutschland
3. Ulla Fröhling, Autorin, Wissenschaftsjournalistin: Pilotstudie zu ritueller Gewalt in Deutschland: ‘Können wir uns das Wegsehen länger leisten?’
4. Mutter eines betroffenen Kindes: Der Versuch, in Deutschland professionelle Hilfe für ein rituell mißhandeltes Kind zu bekommen

Ich möchte Ihnen damit sagen, dass unsere damals zukünftige Regierung seit 1998 über diesen Bereich zumindest rudimentär informiert wurde.

Was geschah weiter? Aufgrund unserer Ergebnisse formulierte die SPD-Fraktion zwei Monate später eine Kleine Anfrage an die Regierung: „Rituelle Gewalt in Kinderhändlerringen und destruktiven Kulten“ (F 8)

An dieser Anfrage hatten wir mitgearbeitet, speziell Thorsten Becker. Eine Bundestagsanfrage ist ein interessantes demokratisches Instrument. Oft dient sie mehr dazu, die Regierung mit bestimmten Fakten zu konfrontieren und ihre einzelnen Institutionen zu einem Informationsaustausch zu zwingen, als sie zum Handeln zu bewegen. Einige Zeitungen berichteten über die von Sachkenntnis kaum getrübten Antworten der Regierung – damals die CDU/CSU-FDP-Koalition. Hier sind die Antworten nachzulesen: » http://www.dissoc.de/antwort_br.html

Im Sommer 98 erschien der Endbericht der Enquete-Kommission „Sog. Sekten und Psychogruppen“ (F 9-13) Auch dort schlug sich unsere Arbeit nieder. Zwar meist nur in Fußnoten (F 10). Aber immerhin, die damals wichtigen Werke sind aufgelistet. Beobachtungen werden aufgenommen: „Einzelfallschilderungen von hoher Plausibilität“, „Verbindungen bis in die Nazi-Ära“, „Folterungen“ sind einige der Stichworte. (F 11) „Von der Existenz solcher Kulte ist auszugehen“, heißt es. Aber auch von einer „gespaltenen Datenlage“ ist die Rede. „Nahezu drastisch zu nennende Minimalzahlen einer nicht flächendeckenden Befragung“ – die unsere – „andererseits keine Bestätigung der Verdachtsmomente durch die Polizei- und Ermittlungsbehörden.“ In den Empfehlungen wurden die Erfahrungen und Empfehlungen von Ermittlungsbehörden, Kliniken, Traumatherapeuten und Sektenbeauftragten zusammengefasst. Hier der wichtige Satz: „Insbesondere gilt es, die Phänomene des rituellen Mißbrauchs weiter zu erhellen.“ Forschungsarbeiten, Sonderkommissionen und Fortbildungen für die Polizei soll es geben. Klingt gut. (F 13)

Folgerichtig stellt die ISSD stellt einen Forschungsantrag an das Familienministerium, um die Zahlen unserer Studie wissenschaftlich auswerten und veröffentlichen zu können.
Inzwischen hatten wir einen Regierungswechsel. Die Erwartung, nun würde es leichter gehen, erfüllt sich nicht. Gute Kontakte, die zur Opposition bestanden hatten, gestalteten sich zähflüssiger zu einer SPD in Regierungsverantwortung. Einige Mitarbeiter, die sich in das Thema eingearbeitet hatten, engagierten sich weiterhin. Doch das politische Interesse war erloschen. Ich begriff, daß rituelle Gewalt offenbar ein Thema ist, mit dem eine Opposition hervorragend die Unkenntnis einer Regierung „vorführen“ kann; stellt sie jedoch selbst die Regierung, möchte auch sie sich nicht die Hände schmutzig machen. Informell und nicht zitierbar hörte ich von parlamentarischen Mitarbeitern verschiedener Parteien der jungen Berliner Republik die Annahme, Politiker quer durch alle Parteien wären besorgt, dass eigene Leute verwickelt seien und scheuten deshalb davor zurück, Licht in dieses Dunkel zu bringen.

So war der Verlauf des letzten Aktes nur konsequent: Eine kleine Anhörung wurde so kurzfristig anberaumt, dass ich versucht bin, von einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu sprechen. Weder Michaela Huber noch Dr. Ursula Gast konnten teilnehmen, ein Alternativtermin wurde nicht angeboten. Ursula Gast war damals Leiterin der Psychotherapie-Weiterbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover, 2002 habilitierte sie über Dissoziative Störungen und ist seit 2004 Leitende Ärztin der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin des Ev. Krankenhauses in Bielefeld, also Nachfolgerin von Luise Reddemann. In den erwähnten Institutionen wurden PatientInnen mit dissoziativen Störungen und Folgen ritueller Gewalt spätestens seit Anfang der 90er Jahre wahrgenommen, diagnostiziert und so gut, wie die damaligen Kenntnisse es ermöglichten, auch behandelt.
Solche Fachleute nahmen leider an der Anhörung nicht teil. Ebenfalls keine Sektenberater mit Kenntnissen im Bereich schwerer Traumafolgen. Eine Berliner Psychotherapeutin, deren einzige inhaltliche Qualifikation für das Thema darin bestand, dass sie vor einer Weile eine Kollegin supervidiert hatte, die „wohl eine multiple Klientin“ in Therapie hatte, sowie ein Sektenbeauftragter der evangelischen Kirche, der zu diesem Zeitpunkt beide Phänomene – DIS wie RA – grundsätzlich in Abrede stellte, bildeten den Wissensstand des Kompetenz-Teams ab, das Entscheidungsgewalt über die Auswertung der Studie hatte. Korrekter: Während ich dort stand, ging mir auf, dass schon entschieden worden war, bevor man die Einladung ausgesprochen hatte.
Am 5. November 1999 wurde der Antrag abgelehnt. (F 14) „In Würdigung aller Aspekte“ sogar. Das ablehnende Ministerium wird von Ulla Schmidt geleitet. Das deute, wer will.

Unverzagt begann die ISSD-D – inzwischen war sie fünf Jahre alt und konnte das –, die wissenschaftliche Auswertung selbst zu finanzieren. Sie engagierte dafür Dipl.-Psych. Frauke Rodewald von Medizinischen Hochschule Hannover. Die Inhalte waren nun nicht mehr unter dem Deckel zu halten. 2002 verwendet die Brüsseler EU-Konferenz „Gegen Menschenhandel“ die Kleine Anfrage zu ritueller Gewalt von 1998. „Die Zukünftige Rolle der Parlamente bei der Verhinderung und Bekämpfung von Menschenhandel als Globale Herausforderung in 21. Jahrhundert“. (F 17) Das Wort Rituelle Gewalt scheint noch tabu zu sein, das Phänomen aber wird auf politischer Ebene im Zusammenhang mit Menschenhandel eingeordnet. Das ist schlüssig: die Benutzung von Menschen wie Ware. Das gilt in der „Kinderporno“-Industrie sicher genauso wie in Armeen, die Kindersoldaten benutzen, in Diebstahlbanden konditionierter rumänischer Kinder und für andere Opfer ritueller Gewalt.

Schließlich, im November 2005, nach fast neun Jahren – legt die ISSD die ausgewertete Pilotstudie vor. Und nicht nur das: es gibt eine zweite Datenerhebung: Rituelle Gewalt im Ruhrgebiet. Der Arbeitskreis Rituelle Gewalt, gegründet von Silvia Eilhardt in Witten, hat sie initiiert. Nachher wird sie uns vorgestellt. Wir können also vergleichen. Und nicht nur das: auch Vielfalt e.V. Bremen hat eine eigene Studie über die Erfahrungen von Begleiterinnen beim Ausstieg Betroffener veröffentlicht.

Damit nicht genug: Von Januar – März 2007 beginnt eine deutsch-amerikanische Internet-Befragung, weltweit Daten über rituelle Gewalterfahrungen von Betroffenen zu erfassen. In der zweiten Hälfte des Jahres folgt die Befragung von Therapeuten und Ärzten. Die Ergebnisse sollen im Netz zur Verfügung gestellt werden. Selbstverständlich sind die Probleme solcher Studien auch den Verfassern und Verfasserinnen bekannt. Dennoch: An dieser Stelle möchte ich die Worte wiederholen, die man uns vor zehn Jahren sagte, als wir die erste Studie begannen: Vielen Dank, dass Sie überhaupt nachfragen, statt sich abzuwenden wie andere. Auch die Ergebnisse dieser internationalen Studie sind inzwischen im Internet nachzulesen: » http://extreme-abuse-survey.net/survey.php?de=b

Mein Resümee nach 18 Jahren, in denen ich den Bereich journalistisch beobachtet habe: Das Thema ist nicht totzukriegen, weil es nicht mehr wegzuleugnen ist.

Nachtrag am 30. Oktober 2008:
Inzwischen liegt auch aus Rheinland-Pfalz eine Studie vor. Der SWF berichtete darüber.

Vor mehr als einem Jahrzehnt, am 30.10.1998, erhielt eine Deutsche politisches Asyl in Australien wegen ritueller Gewalterlebnisse in Deutschland. Die australischen Behörden erklärten die Aussage einer Deutschen für glaubwürdig, die von sexueller und sadistischer Gewalt im Rahmen eines geheimen Kultes in Bayern berichtete. Sie boten ihr Schutz, weil sie sich überzeugt hatten, dass die Existenz solcher Kulte in Deutschland noch leugnet wurde und den Opfern somit kein Schutz gewährt wurde.
Das war damals.
Wie sieht es heute aus?

Autorin: Ulla Fröhling.

Die Zahlen zur Pilotstudie (zum Vergrößern bitte anklicken)


Befragung 2005

Organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt -- Erfahrungen mit Ausstiegsbegleitung aus der Sicht professioneller Beraterinnen / TherapeutinnenErgebnisse einer Befragung im Herbst 2005, herausgegeben von Vielfalt e.V. (in Kooperation mit dem Zentrum für Psychotraumatologie Kassel)

» https://www.vielfalt-info.de

» https://www.vielfalt-info.de/index.php/rituelle-gewalt/ausstieg

» https://www.vielfalt-info.de/index.php/rituelle-gewalt/folgen


Datenerhebungen 2005-2007

Datenerhebungen zur Situation „ritueller Gewalt“ in den Regionen Rheinland-Pfalz, Ruhrgebiet, NRW, Saarland 2005-2007
» Datenerhebung (pdf) [1.2 MB]

 


Internationale Studie 2007

„Extreme Abuse Survey“
C. Rutz, B. Overkamp, W. Karriker & Th. Becker:

» https://extreme-abuse-survey.org

Eine Folge von Online-Studien: Die AutorInnen der Studien erhielten über 2.000 Rückmeldungen aus 40 Ländern.

Erste Auswertungen:

Becker, T; Karriker W; Overkamp B; Rutz, C (2008). “The extreme abuse surveys: Preliminary findings regarding dissociative identity disorder”, Forensic aspects of dissociative identity disorder. London: Karnac Books, 32-49. ISBN 1-855-75596-3